SWISSonian – Eine Nuitopie
Global betrachtet, mag der Anteil des Luftverkehrs an den Treibhausgasemissionen noch im einstelligen Prozentbereich liegen. Mit nur wenigen jährlichen innereuropäischen Flugreisen dominieren diese jedoch schnell den persönlichen ökologischen Fussabdruck. Das gilt auch für den Autor, der im Nachtzug eine Chance für die Zukunft sieht.
Im Jahr 2020 leitete die SWISS die grosse Wende ein. In den 2010er Jahren hatten sich bereits die Autobauer von ihrer fahrzeugfixierten Herstellerrolle verabschiedet, um fortan als verkehrsmitteloffene Mobilitätsdienstleister zu agieren. Nun sprengte die erste Fluggesellschaft das Korsett ihres traditionellen Geschäftsmodells. Auf der Pressekonferenz proklamierte die SWISS die Abkehr vom reinen Flugbetrieb hin zum Reiseerlebnis-Anbieter. Im Zentrum stand dabei der Markteintritt der SWISS auf der Schiene mit dem eigenen Nachtzugprodukt SWISSonian.
Alles begann mit einem Geheimprojekt im Winter 2019. Führende Köpfe des SWISS-Managements hatten schon lange verstanden, dass das Kerngeschäft der SWISS nicht aus den Flugkünsten ihrer Piloten bestand, sondern der Verwandlung von notwendigen Reisezeiten in erwünschte Erholungs- und Erlebnisphasen. Angesichts des politischen Drucks der Klimakrise war es an der Zeit, Risikovorsorge zu betreiben und nicht nur die Lobbyisten in den Kampf gegen weitere Abgaben und Regulierungen zu schicken. Dachte man das Schweizer Klimaziel „netto null“ bis 2050 strategisch konsequent zu Ende, war der finanzielle Crashkurs beim Festhalten am monofunktionalen Airline-Modell vorprogrammiert. Zudem mussten die Manager nicht nur öffentlich ihr Geschäft verteidigen, sondern zunehmend auch in ihren Familien. Die eigenen Kinder hinterfragten immer vehementer, wie denn die ständige Intensivierung des Flugverkehrs mit einem enkeltauglichen Weltklima zusammenpasse. Vor diesem Hintergrund entspann sich aus einem Gedankenspiel der Führungsriege ein Experiment, das der Anfang der Neudefinition der SWISS werden sollte.
Dabei war die SWISS nicht die erste Fluggesellschaft, die den Sprung auf die Schiene wagte. Die Konzernmutter Lufthansa hatte bereits in den 1980er Jahren mit dem Lufthansa-Airport-Express Kurzstreckenflüge zwischen dem Frankfurter Flughafen und Düsseldorf bzw. Stuttgart ersetzt. Im Gegensatz zu späteren Kooperationen von Bahnen und Airlines wurden dabei nicht nur Kontingente auf Bestandszügen für Flugreisende reserviert. Stattdessen kam spezifisches Wagenmaterial und eigenes Personal zum Einsatz. Nur den Bahnbetrieb überliess die Lufthansa der Deutschen Bundesbahn.
Mit dem SWISSonian griff die SWISS dieses Prinzip wieder auf, verstärkte aber ganz im Geist des aktuellen Kooperationsparadigmas in der Mobilitätswelt die Zusammenarbeit mit Partnern auf allen Ebenen der Produkterstellung. Als Leitbild diente die „Swissness“ des Produkts, die eines der Erfolgsfaktoren des letzten grossen europäischen Nachtzuganbieters City Night Line (CNL) gewesen war. Also holte man mit Stadler Rail einen Schweizer Fahrzeughersteller mit an Bord, der in den 2010er-Jahren im Auftrag osteuropäischer Bahnen Kreativität und Schnelligkeit beim Bau neuer Schlafwagen unter Beweis gestellt hatte. Als Betreiberin gewann man die BLS, die mit ihrer Güterverkehrssparte ohnehin den europäischen Markt ins Visier nahm und über die erforderlichen Kompetenzen für den europaweiten Lokomotiveinsatz verfügte.
Entscheidend war jedoch das Grundverständnis, mit dem der Allianzführer SWISS in den neuen Markt einstieg. Ziel war nicht, inkrementell die nächste Nachtzuggeneration zu entwickeln, sondern das eigene Serviceverständnis auf die Flughöhe Null zu bringen. War man bislang in der Rolle des etablierten Marktteilnehmers gefangen, der sich der innovativen bis aggressiven Angriffe der Billigfluggesellschaften erwehren musste, wechselte man nun in den Disruptoren-Modus. Als „Createur d’expérience touristique“ wollte man den Nachtzug aus der Kundenperspektive neu denken, zugeschnitten auf den heutigen Flugreisenden und nicht die bestehende Bahnklientel. Im Ergebnis landete man bei einem Schlafwagendesign, das eher an die Cabin-Nachtbusse zwischen Los Angeles und San Francisco erinnerte als an die klassischen Nachtzug-Arrangements. Dabei bediente man sich geschickt der Minimalismus-Designideen wie dem Tiny-House-Trend, der die urbanen Nomaden begeisterte. Weitere Anleihen machte man bei den Boutique-Hostel- und Mikrohotel-Konzepten, die erfolgreich in den Metropolen Übernachtungsgäste anzogen. Kleine aber feine Rückzugsräume – von der japanisch beeinflussten Capsule-Klasse bis zum Schlafsessel-Grossraumwagen, alles schall- und vibrationsisoliert, mit Zugang zu Strom und WLAN.
Der SWISSonian positionierte sich eher als Gastgeber denn als Transporteur, mit dem zentralen Versprechen, einen erholsamen Schlaf und eine Fülle ergänzender Dienstleistungen anbieten zu können. Kein Warten auf zugig kalten Bahnsteigen vor der Abfahrt, keine Rangierstösse in der Nacht, keine separates Buchen von öV-Anschlusstickets, sondern ein komfortabler „Nachtsprung“ ohne Rote-Augen-Effekt am kommenden Tag. Das Beste aus den Welten Kreuzfahrt und Direktflug vereint.
Mit hohen Qualitätsversprechen waren zuvor allerdings schon andere Hotelzüge an den Start gegangen – und an den ebenso hohen Kosten kläglich gescheitert. Entsprechend fiel die Reaktion der Bahnen nach dem ersten Schock aus. Sie belächelten das Engagement, dem sie unisono eine kurze Halbwertszeit bescheinigten. Damit tappten sie geradewegs in die „Tesla Train“-Falle, wie die Medien das Phänomen Jahre später betitelten. Auch Elon Musks Elektroauto war von Volkswagen & Co. zunächst als weiterer hoffnungsloser Versuch abgetan worden, das weit überlegen erscheinende Verbrennungsmotor-Konzept zu verdrängen. Bis die Branche merkte, das Tesla kein E-Auto baute, sondern mit einem – teils autonom – rollenden Smartphone ein neues Marktsegment kreierte, hatte Tesla schon reichlich Vorsprung herausgefahren.
In gleicher Weise etablierte der SWISSonian ein vollkommen anderes Narrativ für kontinentales Reisen. Vom Saulus zum Paulus, mit dem neuen zentralen „Purpose“, tatsächlich etwas gegen den Klimawandel zu tun. Dagegen wirkten sämtliche Wettbewerber im differenzierungsarmen Luftverkehr rückschrittlich. Im Megatrend Gesundheit galten Schlaf und Eigenzeiten nicht nur bei der Generation Z als neue Statussymbole, weit oberhalb des gängigen Statusmeilen-Steigerungsspiels mit Lächerlichkeitsattitüde.
Unternehmen wie Geschäftsreisende schienen nur darauf gewartet zu haben, ein reisenden- wie umweltschonendes Reiseprodukt jenseits fadenscheiniger Kompensationsmassnahmen einsetzen zu können. Als Einstiegsmodell mit geringer Zugangshürde reaktivierte die SWISS das Night&Flight-Modell. Bereits 2005 hatte sie gemeinsam mit CNL unter diesem Label Nachtzugan- und Flugrückreise (oder vice versa) zu einem Flug-Zug-Kombiangebot integriert. Die nur telefonisch mögliche Buchung, minimaler Werbedruck und das beschränkte Streckenangebot zu Zeiten des Billigflieger-Booms brachte die Kooperation schnell zum Scheitern. App-gestützt und mit dem Rückenwind der SWISS-Marketingmaschinerie wagten nun auf Anhieb bedeutend mehr Reisende den Teilumstieg, der als zusätzlichen Anreiz eine Ankunft am Zielort vor der ersten Linienmaschine offerierte. Überzeugte Kunden stiegen schnell auf das darauf aufbauende NuitouNon-Modell um. Das Angebot stellte insbesondere Mittelständler und Freelancer vor die Wahl, entweder den Nachtzug oder alternativ ein High-End-Videokonferenzsystem in einer der neuen innerstädtischen SWISSonian-Stores zu nutzen. In der Folge reisten die Kunden bewusster, verlagerten mehr Termine in den virtuellen Raum und fokussierten ihr Mobilitätsbudget auf Nachtzugreisen mit hohem Aufenthalts- und Umweltstandard.
Die hierdurch steigende Zahlungsbereitschaft war jedoch nur ein Baustein des Erfolgs. Auf der anderen gelang es, die Kosten massiv zu senken. Allen Beteiligten war von Anfang an klar, dass kleine Inselverkehre keine Aussicht auf Rentabilität haben. Nur durch die Skaleneffekte eines umfassenden europäischen Nachtzugsterns liessen sich die Produktivitätsnachteile des nur nachts aktiven Wagenmaterials eindämmen. Als Produktionsmittel ähnelt der Schlafwagen eher einem Hotelzimmer. Trotzdem hätte die interne Kostenoptimierung niemals alleine ausgereicht. Doch gelang es, angesichts der zuvor weit verfehlten Verlagerungsziele die Politik zum Handeln zu bewegen. Im Gegenzug zur milliardenschweren Investition senkten die wichtigsten staatlichen Schieneninfrastrukturverwalter die nächtlichen Nutzungsentgelte massiv, wurden Kreditsicherheiten gewährt und Sonderregelungen geschaffen.
2030, fünf Jahre nach dem Start der ersten zehn Linien mit Wagenmaterial im Wert von zwei Langstreckenfliegern, zeigt sich die Konzernmutter Lufthansa vom SWISSonian-Experiment positiv überrascht. Die Auslastung liegt bei über 90 Prozent – auch dank Kontingentabkommen mit diversen Firmen, die sich mit dem Siegel „Exclusively moved by SWISSonian” schmücken. Längst hat sich rund um das SWISSonian-Kernprodukt ein Ökosystem weit über Videokonferenzen hinaus gebildet, das massgeblich zum Gewinn beiträgt. SWISSonian hat den Nachtzug in das 21 Jahrhundert katapultiert – und Dutzende nun ungenutzter Flugzeuge in die kalifornische Wüste.#