Der öffentliche Verkehr steht jetzt in einer besonderen Verantwortung
Das öffentliche Verkehrsangebot wird in den nächsten Tagen schrittweise hochgefahren. Hochfahren darf nicht heissen, Weiterfahren nach altem Schema. Als rollender Dorfplatz, auf dem sich täglich Hunderttausende begegnen, trägt der ÖV eine ganz besondere Verantwortung gegenüber Fahrgästen und Mitarbeitenden. Einige Gedanken zum Neustart nach dem Lockdown.
Die Diskussion dreht sich im Moment hilflos um die Frage wie man in Tram und Bus den Sicherheitsabstand von zwei Metern einhalten kann. Dabei ist die Antwort eigentlich ganz einfach: Möchte man einen Abstand von zwei Metern (Warum genügen in Deutschland 1,5 Meter?) zwischen den Fahrgästen sicherstellen, wären dafür 6m2 pro Fahrgast notwendig. So dürften höchstens 15 statt der an sich erlaubten 220 Personen gleichzeitig mit einem Cobra-Tram reisen. Somit ist eines klar: Es geht nicht.
Das Virus wurde bisher weder wirklich aktiv bekämpft und schon gar nicht besiegt. Die Bevölkerung wurde lediglich dazu aufgefordert dem Virus auszuweichen, sogar unter Androhung von Bussen. Solange es keine breitenwirksamen Mittel zur Bekämpfung und Vertreibung des Erregers gibt, kann und darf dieses Social Distancing nur als zeitlich begrenzte Lösung dienen, um Zeit zur Suche nach aggressiven Massnahmen zu gewinnen.
Klimapolitik aus dem Blickfeld gerückt
Es ist somit ein Faktum, dass man in den Fahrzeugen des ÖVs den amtlich empfohlenen Sicherheitsabstand von zwei Metern nicht einhalten kann. Selbst, wenn man es versuchen wollte stünde es im krassen Widerspruch zu seiner absoluten Stärke. Denn gerade die «soziale Nähe» ist ein Erfolgsrezept, mit dem sich der ÖV zum grossen politischen Hoffnungsträger der Klimapolitik entwickelt hat. Die Klimapolitik ist jedoch momentan selbst bei verantwortungsbewussten Menschen etwas aus dem Blickfeld verschwunden. Dabei zeigt gerade der Einfluss des Lockdowns auf die Luftqualität in grossen Städten, wie stark Industrie und Verkehr unsere Umwelt belasten. Die Menschen erleben wieder täglich, wie schön und lebenswert unsere Städte sein könnten, wenn es in ihnen weniger Verkehr gäbe. Weniger Verkehrslärm gibt unserer Aufmerksamkeit wieder Raum für Vogelgezwitscher und bessere Handy-Verständigung. Die Zwangsverbannung von Schülern und Arbeitenden in ihre Wohnungen hat auch gezeigt, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, mobil zu bleiben, ohne sofort ein Verkehrsmittel zu benutzen. Und das auch noch ohne stressige Pendler Wege.
Mutig mit der Fahne voraus
In Zukunft werden drei Verhaltensregeln den Alltag der Gesellschaft prägen: Umsicht, Abstand und Rücksicht. Abstand kann der ÖV, wenn er seine Leistungen erbringen will, zu gewissen Tageszeiten schlicht und einfach nicht bieten. Somit bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich verstärkt auf Um- und Rücksicht zu konzentrieren. Warum können und wollen wir nicht versuchen, aus dieser Realität zusammen mit den neuen Eindrücken und Erfahrungen aus dem Lockdown eine Strategie für ein Leben mit Corona zu entwickeln, das auch nach Corona der Gesellschaft einen grossen Nutzen bringt?
Man muss leider davon ausgehen, dass, uns das Virus noch lange zum Narren halten wird, und man wird die Ansteckungsrisiken niemals zu 100 Prozent eliminieren können. Man kann und muss jedoch das Risiko einer Ansteckung konsequent minimieren, um z. B. Pandemien in Zukunft früher zu erkennen oder ganz zu vermeiden (Stichwort: Schutzmaskenvorrat).
Und um diese Minimierung des Ansteckungsrisikos muss es jetzt auch beim ÖV in erster Linie gehen. Es braucht dazu einen mutigeren öffentlichen Verkehr, als er es bisher war, der mit der Fahne vorausgeht und der Öffentlichkeit beweist, wie er das Ansteckungsrisiko verringert, seinen Fahrgästen und Mitarbeitenden Sorge trägt und Vertrauen schafft. Mit einem derart beherzten Vorgehen könnte der ÖV vielleicht auch andere Branchen, die von «sozialer Nähe» leben, helfen, ihren Neustart zu bewältigen.
Klare Forderungen an die Politik
Richtlinien des Bundes, des Bundesamts für Verkehr oder eines Verbundes, die sich nur auf das «Hochfahren» des Fahrplans beschränken und alles weitere den Verkehrsbetrieben zuschieben, können niemals das Vertrauen der Kundschaft gewinnen, werden niemals die Umsicht der einzelnen ÖV-Betriebe ersetzen.
Primär ist es eine kommunikative Aufgabe, die vollkommene Offenheit und Transparenz voraussetzt. Dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zur Frage des Tragens von Schutzmasken in den Fahrzeugen und auf den Haltestellen. Schliesslich ist der ÖV eine Dienstleistung von Menschen für Menschen und seinen Kunden am nächsten. Eine von «oben» verordnete landesweit einheitliche Lösung in Ehren, es stünde den einzelnen Unternehmungen sehr gut zu Gesicht, wenn sie ein klares Signal aussenden würden, wie sie ihre Umsicht gestalten wollen.
Als zweites Element sind die hygienischen Vorsorge-Massnahmen eine Pflichtübung. Da wäre z. B. auch eine Befragung oder Mitwirkung der Fahrgäste mindestens so kreativ wie hilfreich, als eine Befragung darüber, welchen ÖV sich die Kundinnen und Kunden in 30 Jahren wünschen.
Und drittens, vielleicht etwas ungewohnt, jedoch entscheidend, käme neu dazu, dass die ÖV-Branche lauthals von der Politik verlangt, Massnahmen zu ergreifen, um die Stosszeiten spürbar zu entflechten, um mehr Bewegungsräume für die Fahrgäste in Tram, Bahn und Bus zu bieten. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt dazu. Home-Office und verschobener Beginn der Schulzeiten wären die ersten und wirkungsvollsten Massnahmen. Nicht unbedingt so absolut praktiziert, wie momentan, aber gezielt. Zudem müssten Kooperationen mit grossen Firmen getroffen werden, um spezifisch verschobene Arbeitszeiten zu fördern. Im Gegenzug könnte man entsprechende Fahrpreisermässigungen gewähren. Diese Dinge sind nicht neu. Nur hatte man früher immer gute Ausreden, sie wieder in den Schubladen verschwinden zu lassen. Nun zählen in erster Linie Umsicht, Distanz und Rücksicht zu den wirkungsvollsten Massnahmen zur Senkung der Ansteckungsgefahr. Damit bekommen die alten Themen wieder ein völlig neues Gewicht, das man unbedingt nutzen sollte. Mit dem Einsatz der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien und den Möglichkeiten der Plattformen und Apps könnte das «Social Distancing» auch über die Zeitachse gewährleistet werden, was nicht nur dem ÖV helfen würde.
Richtlinien der Politik und Verbände dazu wären hilfreicher, als offizielle Aussagen, wie «... zweiter, umfangreicherer Schritt mit grösserem Angebotsausbau. Es brauche einen funktionierenden Nahverkehr, wenn die Schulen öffnen würden, sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga letzte Woche.»
«Hochfahren» in Form von Weiterfahren nach altem Schema? Wenn wir die Chancen, die uns Corona ja auch bietet, nicht zu einem wirklichen und gemeinsamen Aufbruch nutzen, dann darf man für den Klimaschutz endgültig schwarzsehen. #